Ich bin ein atypisches Rett-Kind!

Veröffentlicht von Angelika Hohm am

„Ich bin Emina“

Ich weiß nichts von Rett-Syndrom und kenne keine genetische Mutation. Ich weiß nichts davon, dass diese Entwicklungsstörung seit 1966 durch Prof. Dr. Andreas Rett bekannt ist. Ein Merkmal dieser Störung soll sein: wringende, waschende und knetende Bewegungen.

„Ich will Bällebad“, „Kastanienbad“, „Kette“

Ich bin im Bauch meiner Mama gewachsen – und wurde mit Liebe von Mama und Papa erwartet. Niemand konnte erkennen, dass ich „anders“ sein werde. Jetzt bin ich 6 Jahre alt und kann sprechen, entgegen jeder Voraussage.

Kannst du ein Schaf nachahmen?“ – „Bäh.“

Kannst du eine Katze nachahmen?“ – „Minau.“

„Kannst du ein Pferd nachahmen?“ – Pfhhh.“

Ich mag Rad fahren. Dass kann ich – nur weiß ich nichts von Straßenverkehr und Regeln. Mit Mama auf dem Rad ist es schon ganz schön wackelig. Ich bin schon groß. Ein Fahrrad, auf dem ich neben Mama sitzen und mit treten kann, wäre schön. Aber so ein Fahrrad haben wir nicht. Ich mag gerne laufen und mich drehen. Dafür brauche ich Platz. Aber ich weiß nichts von vorsichtig sein, aufpassen im Gelände, auf andere Menschen achten. Ich tue es einfach! Ich begrüße gerne andere Kinder und Erwachsene – nur kann ich nicht sachte und leise sein. Mein Begrüßungshandschlag tut anderen manchmal weh. Und leider habe ich immer zu viel Spucke im Mund – und die muss raus! Papa fragt: „Emina, was ist verboten?“

„Spucken, hauen, schreien.“

Aber das vergesse ich immer gleich wieder. Dann kann ich auch mal wütend sein! Ich schreie und mein Körper verkrampft sich. Ich will das nicht und Mama und Papa helfen mir mit Ablenkung und streicheln und kuscheln.

„Ich bin lieb!“

Im Frühling und Sommer kann ich auf Bruno reiten.

„Pferde!“

Mit Oma kann ich auf der Wiese gemeinsam toben, laufen und mit der Seilbahn fahren.

„Fang dich!“

Im Sommer geht es mir besonders gut. Papa geht mit mir im See baden. Ich habe keine Angst.

„Baden“

Große Sandberge liebe ich. Der Sand fliegt so schön über meinen Kopf oder auch auf Omas und Papas Kopf. An den Händen und mit nackten Füßen fühlt sich Sand besonders gut an.

„Mit Sand geschmissen!“ ; „Du bist traurig?“

Im Herbst gefallen mir die bunten Blätter. Es raschelt beim Gehen und ich kann sie mit den Händen hoch werfen. Wenn es irgendwo Pfützen gibt, dann gehe ich da hin. Ich lege mich auch rein. Das ist wie baden. Ich kann mir nicht merken, dass das Wasser im Herbst kalt ist – und sowieso schmutzig.

„Im Wasser baden!“

Im Winter bin ich traurig. Ich weiß nicht, warum der Schnee an meinen Händen weh tut. Ich mag keine Handschuhe tragen. Manchmal kann ich mir merken, dass „Heizung“ und „Feuer heiß“ sind. Aber ich gehe immer zu dicht ran und fasse an.

„Ist heiß.“

Bei Oma habe ich eine große Schaukel. Wenn Oma unser Lied singt, kann ich ein wenig entspannen.

„Emina willst du schaukeln? Dann gebe ich dir Schwung. Ja, komm und gib mir Schwung, mein Herz. Dann bin ich wieder jung.“ (nach Gerhard Schöne)

Ich mag gerne Eis essen. Es dauert nur zu lange, bis ich mein Eis bekomme.

„In der Eisdiele geschrien!“

Mein Zimmer aufräumen mag ich manchmal. Wenn meine Bälle aus dem Bällebad überall herum liegen, sammle ich zwei auf und werfe sie zu Mama oder Papa. Dass die beiden nicht so gut fangen können, müssen sie noch lernen. Manchmal werfe ich ihnen auch Bausteine, Bücher, Fernbedienungen und Puppen zu. Sie staunen dann nur, wie gut ich werfen kann – nur können meine Eltern auch dann nicht immer gut fangen. Es macht mir auch Spaß, Vasen oder Tassen zu werfen. Ich weiß nicht, ob das richtig ist.

„Du bist traurig?“

Am Esstisch kann ich gut stillsitzen. Aber es muss schnell gehen, mit dem Essen.

„Was es gibt?“

Gut schmecken mir Nudeln und Joghurt. Wenn ich noch etwas möchte, reicht ein leises:

„Bitte“

Ich gehe jeden Tag in den Kindergarten, weil Mama und Papa arbeiten.

Am Computer arbeiten!“

Ich habe extra eine Erzieherin für mich, weil ich so viele Dinge nicht alleine kann: zu Toilette gehen, Hände waschen, Zähne putzen, Haare kämmen, Sachen anziehen, essen, schlafen, spielen,…

„Um halb vier!“; „Abgeholt“

Wieder zu Hause kümmern sich Mama und Papa und manchmal auch Oma um mich. Sie sagen: 24/7 Betreuung. Ich weiß nicht, was das bedeutet; aber alle sind für mich da.

Im Herbst werde ich zur Schule gehen. Mama und Papa sind total aufgeregt: neue Umgebung, neue Kinder und Erzieher. Mir ist das nicht wichtig. Vor einem Jahr konnte ich ein bisschen das „A-B-C-Lied“ singen, Monatsnamen nennen, bis fünf zählen und Nullen schreiben. Jetzt habe ich das wieder vergessen. Der Dr. sagt: „Das ist bei Rett-Kindern so.“

Egal: Ich mag Musik und werde immer mit Musik tanzen.

(Emina spricht in Fragmenten, manchmal ganze Sätze. Oft ist der Zusammenhang des Gesprochenen nicht erkennbar. Wiederum wirft sie Sätze in den Raum, die der jeweiligen Situation entsprechen. Wir wissen nicht, was in ihrem Kopf vor sich geht. Vielleicht haben wir irgendwann die Lösung – wir geben die Hoffnung nicht auf. Die kursiv gesetzten Worte entsprechen Eminas Wortschatz.)

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